Aktuell haben vielleicht viele das Gefühl, dass jeder Tag weltpolitisch betrachtet ein ereignisreicher Tag ist. Die letzten Tage waren in ihrer historisch wie demokratisch relevanten Dichte besonders oder zumindest nicht alltäglich. Man spricht in solchen Fällen auch von Gleichzeitigkeit oder Synchronizität von Geschichte.
Zum einen hatten wir eine besondere Kanzlerwahl, aber eben nur im noch nie da gewesenen 2. Durchgang. Dass Merz eine gewisse Erfahrung hat, zunächst zu straucheln, beschrieb nicht allein die Süddeutsche und wertete diesen als einen miserablen Tag. Die einen und zwar die falschen feixten dann sogleich, die anderen versuchen ebenso hektisch wie demokratisch besonnen, noch am gleichen Tag, das Stolpern wieder aufzufangen. Dass neben den Grünen auch die Linken hier vor allem im Sinne des Staates handelten, sollten die regierenden Parteien nicht vergessen und gewisse Dogmen hinterfragen.
Ebenso “launchte” der Verfassungsschutz kurz zuvor ihren Bericht, dass die rechtsextreme Partei im Bundestag tatsächlich nach ihren Erkenntnissen nun auch so genannt werden darf und zwar komplett. Schnappatmung bei den Faschisten. Klar. Aber dass über ein Parteiverbotsverfahren immer noch im Sinne einer politischen Strategie diskutiert wird, macht mich ratlos.
Wollten die etablierten Parteien nicht seit vielen Jahren diese rechtsextreme Partei mit politischen Mitteln und Inhalten bekämpfen? Der bisherige Ansatz ist – wie viele Wissenschaftler:innen schon lange immer wieder feststellten – gescheitert. So konstatieren May & Czymara in ihrer 2023-Studie: “Wenn etablierte Parteien ausgrenzende Rhetorik übernehmen, stärken sie damit nicht sich selbst, sondern normalisieren rechtsextreme Diskurse – und machen extreme Parteien wählbarer.“
Die Bertelsmann Stiftung stellte in ihrer Studie zur Wirkung von Rechtspopulismus fest: “Wenn demokratische Parteien rechtspopulistische Positionen übernehmen, verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit – und ihre Wähler”. Das lässt sich national wie international mannigfaltig fortführen.
Die demokratischen Parteien haben den Diskurs nach rechts verschoben, und dass ist – 80 Jahre nach der Befreiung Deutschlands und Europas von den Nationalsozialisten – eine gefährliche Gemengelage, was die MEMO-Studie unseres Projektes „Gedenkanstoß“ bestätigt. Zum ersten Mal gibt es mehr Menschen, die einen Schlussstrich fordern, als diejenigen, die diese Forderung ablehnen.
Was heißt das nun?
Natürlich sollte man politisch weiter Extremisten bekämpfen. Der Punkt ist m.E. aber, dass es neben der politischen Schiene auch eine rechtsstaatliche gibt: wenn eine Partei, möge sie noch so teilpopulär sein, die Demokratie und unsere freiheitliche Grundordnung zu beeinträchtigen oder abschaffen will, rechtsextrem, menschenverachtend ist und somit in vielen Punkten gegen unser Grundgesetz verstößt, muss man auch auf anderen Wegen gegen sie vorgehen, das verlangt schon das Grundgesetz (Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes (GG)).
Die Geschichte zeigte uns ja deutlich, dass die sogenannte Machtergreifung Hitlers ja eher eine Machtübergabe war, also ein demokratischer Prozess, der schnell alle demokratischen Mechaniken aussetzte und in einem der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit mündete. #niewiederistjetzt
Und dann, fast gleichzeitig stirbt mit der tollen und beeindruckenden Margot Friedländer eine der unermüdlichen Mahnerinnen und Sprecherinnen gegen das Vergessen. Was für eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse!
Und was lässt sich daraus ableiten?
1: Wir müssen weiter erinnern, denn wir scheinen zu vergessen. Die Initiative der EVZ Gedenkanstoß startet hier z.B. ab 19. Mai eine Tour durch Deutschland, um zu Gedenken, aber auch um Erinnern weiter zu denken.
2: Um sich mit Erinnern und der Fragilität einer Demokratie auseinander zu setzen, ist ein wichtiger Ansatz, sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Und das fängt schon in der eigenen Familie an. “War Opa (oder Oma) doch ein Nazi?” war lange Zeit der Arbeitstitel eines Projekts, welches wir gemeinsam mit dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln an den Start bringen werden. In “SpureNSuche” werden wir eine Online-Recherche-Hilfe zur eigenen Familiengeschichte entwickeln.
3: Wir sollten als Gesellschaft wach und aktiv bleiben, alle Mittel des Rechtsstaates ausnutzen und die Zivilgesellschaft unterstützen sich gegen Angriffe auf unsere Demokratie, Menschenrechte und Freiheit zu wehren, wie z.B. das geplante Gutachten der Gesellschaft für Freiheitsrechte, aber auch die vielen wichtigen Inititaiven, wie Omas gegen Rechts, die von uns umgesetzte Menschenrechtsinitiative der EKD “Frei und Gleich” oder die vielen Bündnisse für Demokratie und Vielfalt, um nur ein paar zu erwähnen.
4: Wir sollten in allen “Systemen” – egal ob Familie, Verein oder Arbeitsumfeld – daran denken, dass “Zusammen” oft besser vielversprechender, reichhaltiger und identitätsstiftender ist, als gegeneinander zu arbeiten und mit Drohung und Belohnung zu agieren. Vielleicht machen wir weniger “Deals”, aber die besseren. Und es macht mehr Spass!
5: Und natürlich sollten die demokratischen Parteien weiter und vielleicht etwas besser versuchen, mit politischen Inhalten überzeugen. Im Sinne der Demokratie, im Sinne der Menschlichkeit.